Nachdem ich hier jetzt auch lange mitgelesen habe und einige kleine Hinweise hinterlassen habe möchte ich hier auch mal ein bisschen laut denken. Hier wird immer wieder gefordert, die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern und auch mal ergebnisoffen Nachzudenken. Also fangen wir einmal mit einer Analyse der aktuellen Situation an.
Dazu ein paar Grundannahmen: Ich gehe davon aus, dass der Erreger SARS-COV-II in einer seiner bisher aufgetretenen oder noch in Zukunft entstehenden Variante uns dauerhaft mit seiner Anwesenheit beglücken wird. Dies folgert daraus, dass generell bei Coronaviren bisher nirgends eine Form einer anhaltenden sterilen Immunität beobachtet wurde und dass das Virus auf diverse Tierpopulationen als Rückzugsort zurückgreifen kann. Daraus folgt, dass sich über kurz oder lang in guter Näherung jeder damit infizieren wird.
Wir leben jetzt seit knapp zwei Jahren mit dem Virus in unserer Gesellschaft. Am Anfang gab es wenig harte Evidenz dazu, die Krankenhäuser kamen in anderen Ländern sehr schnell an ihre Kapazitätsgrenzen, also war klar dass wir den Erreger hier nicht frei zirkulieren lassen wollen. Zudem waren wir in der glücklichen Lage das Infektionsgeschehen in Deutschland sehr früh zu entdecken, so dass wir mit gezielten, verhältnismäßig milden Maßnahmen (Kontaktverfolgung, keine Großveranstaltungen, Kontaktbeschränkungen, Schulschließung) die erste Welle ziemlich gut überstanden haben. Der "Lockdown" aka die nicht-pharmazeutische Intervention war in der Situation die einzige mögliche Maßnahme die zur Verfügung stand um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Die alternative Möglichkeit hat man in Bergamo und Portugal gesehen, ich bin da froh dass es hier anders lief.
In der zweiten und dritten Welle herrschten ähnliche Bedingungen, in der dritten war dann die Impfung verfügbar, es fehlte aber die Zeit diese flächendeckend auszurollen. Man sah aber erste Effekte gerade in den Altenheimen, wo zuerst geimpft wurde.
Anschließend hatten wir einen Sommer lang Zeit uns auf die vierte Welle vorzubereiten. Seitens der Politik wurde das Thema angesichts des Wahlkampfes vermieden. Wenn man sich informieren wollte war es aber kein Problem zu erkennen, dass ab August klar war, dass wir es in der vierten Welle mit der Delta-Variante zu tun haben werden. Das bedeutete dann auch direkt, dass die Aussagen zu nötigen Impfquoten um eine starke exponentielle Verbreitung des Virus zu verhindern angesichts der von 2,5 auf 9 angestiegenen Reproduktionszahl gegenüber dem ursprünglichen Wildtyp nicht mehr passten. Zusätzlich ist die Impfung bei Delta auch etwas weniger effektiv, was dem ganzen natürlich auch nicht hilft.
Wir haben jetzt also zwei Wege unser Gesundheitssystem vor der Überlastung zu schützen: Impfung oder Kontaktbeschränkung. Eine effektive Therapie der Erkrankung gibt es zwar auch, diese ist aber aus verschiedenen Gründen nicht im großen Stil einsetzbar (Verfügbarkeit, Kosten, frühzeitiger Start der Therapie, Nebenwirkungen...) so dass diese Option leider wegfällt. Wir können einfach nicht täglich 70 000 Neuinfizierte mit monoklonalen Antikörpern therapieren.
Also bleiben uns drei Optionen:
- Einen flächendeckenden Impfschutz in der Bevölkerung herstellen
- Weiter Kontakte einschränken
- Mit der Überlastung des Gesundheitssystems leben
Da wir uns als Gesellschaft jetzt wohl gegen die erste Option entschieden haben und kein vernünftig denkender Mensch die dritte Option bevorzugen sollte, bleibt uns für den Augenblick nur weitere nicht-pharmazeutische Intervention.
Weiter sollte man dann noch einen Ausblick auf die Zukunft haben, und diskutieren, wie wir am Ende aus der Pandemie herausgehen wollen: Wollen wir möglichst frei und uneingeschränkt gelebt haben? Wollen wir möglichst wenig Tote zu beklagen haben? Wollen wir ein funktionsfähiges Gesundheitssystem haben, damit Menschen, die abseits von COVID-19 ein Intensivbett brauchen auch eine Überlebenschance haben?
Eins ist auf jeden Fall sicher: Am Ende sterben immer Menschen. Das passiert eh immer, die Frage ist nur wie, wie viele und wann. Es sollte jedem klar sein, dass bei den drei Optionen die Zahl der Todesopfer der Pandemie von oben nach unten deutlich steigend ist. Eine Impfung bringt das Risiko auf einer Intensivstation zu landen eines 70+-Jährigen ungefähr auf das eines ungeimpften unter 40. Das Risiko des unter 40-Jährigen sinkt durch die Impfung in den kaum mehr messbaren Bereich. Die Infektionssterblichkeit geht durch die Impfung auf ein Fünftel bis ein Zehntel zurück, und wir wissen ja noch aus der Anfangsannahme, dass eh jeder irgendwann infiziert wird. Was eine absolute Überlastung des Gesundheitssystems an zusätzlichen vermeidbaren Todesfällen (dann auch nicht nur COVID-Patienten) bedeutet möchte ich nicht weiter ausmalen.
Falls jemand da grobe Fehler findet bin ich gerne bereit mich belehren zu lassen.
Gruß, Onno