Ein Bezahlartikel vom 07.11.22, den ich deswegen mal reinkopiere:
CHEFVIROLOGE DER UNI KIEL
„Schon bei jüngster Erkältungswelle war Sars-CoV-2 nicht mehr der dominante Erreger“
Stand: 07.11.2022 | Lesedauer: 5 Minuten
Von Ulrich Exner
Korrespondent
Helmut Fickenscher, 60, ist Chefvirologe an der Uni Kiel und Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten
Schluss mit Isolationsregeln und Maskenpflichten: Der Kieler Chefvirologe Fickenscher fordert mit Blick auf Deutschlands Corona-Eingriffe eine harte Kehrtwende. Lauterbach attestiert er ein Denken aus der Frühphase der Pandemie – und plädiert für die Rückkehr zur Eigenverantwortung.
WELT: Herr Fickenscher, wann tragen Sie selbst in diesen Tagen noch einen Mund-Nasen-Schutz?
Helmut Fickenscher: Innerhalb der Klinik: Überall dort, wo Mitarbeiter und Patienten zusammenkommen. Im Freien: gar nicht. In geschlossenen Räumen nur dort, wo es sehr eng zugeht oder besonders schutzbedürftige Menschen ihrerseits Maske tragen. Dann ist es für mich eine Frage der Freundlichkeit und der Solidarität, das auch zu tun.
WELT: Hat eine allgemeine Maskenpflicht, zum Beispiel in Bussen und Bahnen, noch Sinn?
Fickenscher: Pflichten sind im Umgang mit der Pandemie insgesamt fragwürdig geworden. Wir haben heute Bedingungen, die sich radikal von denen unterscheiden, mit denen wir es vor ein oder zwei Jahren zu tun hatten. Wir haben hohe Impf- und Genesungsquoten und dadurch auch eine sehr gute Immunisierungsrate.
Wir haben zudem eine drastisch gesunkene Hospitalisierungsrate und deutlich weniger Schwerkranke. Die Letalität, also der Anteil derjenigen, die an den Folgen einer Covid-Infektion versterben, ist von drei Prozent im ersten Jahr der Pandemie auf heute 0,05 Prozent gesunken. Insofern spricht vieles dafür, alle noch verbliebenen einschränkenden Maßnahmen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit sehr konsequent zu überdenken.
WELT: Also plädieren Sie für die Maske als Ausdruck von Rücksichtnahme – nicht mehr als verpflichtende Maßnahme zum Schutz vor Ansteckung?
Fickenscher: Staatliche Pflichten dürfen laut Grundgesetz nur angeordnet werden, wenn sie verhältnismäßig sind. Diese Verhältnismäßigkeit ist nicht mehr so eindeutig gegeben wie vielleicht zu Beginn der Pandemie.
WELT: Welche Maßnahmen hielten Sie noch für angemessen?
Fickenscher: Schwierig. Es gibt sicher einrichtungsspezifische Maßnahmen, an denen man festhalten kann. Ein Vorschlag, der sich aus einer Experten-Anhörung im Kieler Landtag ergeben hat, ist deshalb, dass man die Regelungskompetenz für die Krankenhäuser wieder an die Kliniken selbst zurückgibt.
Dort gibt es ausgebildetes Personal, das in der Lage ist, selbst zu entscheiden, was im Einzelfall auf welcher Station und bei welchem Patienten angemessen ist und was nicht. Ähnliches gilt für Alten- und Pflegeheime, mit der Unterstützung durch die Gesundheitsämter.
WELT: Im Kieler Landtag haben Sie davon gesprochen, dass die derzeit in den Heimen geltenden Regeln an Sittenwidrigkeit grenzten.
Fickenscher: Wie soll man es anders nennen, wenn hochbetagte Menschen, anders als alle anderen, fast ständig Maske tragen sollen – selbst dann, wenn sie nur mit einigen wenigen anderen zusammensitzen, sich unterhalten oder auch nur zum Frühstück gehen wollen? Das ist insbesondere für von Demenz Betroffene hochproblematisch, wenn ohnehin reduzierte Kommunikationsmöglichkeiten weiter eingeschränkt werden, ohne dass es für eine solche Maßnahme überzeugende Gründe gibt.
Für den Fall, dass in einem Altersheim die Infektionszahlen steigen, kann man natürlich besondere Maßnahmen ergreifen. Aber auch dazu sind die meisten Einrichtungen selbst in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt in der Lage.
WELT: Die Politik tut sich auch schwer, sich von der Absonderungs- und Isolationspflicht für Infizierte zu verabschieden. Zu Recht?
Fickenscher: Die Isolationspflicht stammt aus einer Phase der Pandemie, in der es noch sehr stark darum ging, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Solche Regeln brauchen wir in der jetzigen Phase der Pandemie nicht mehr.
Meine Empfehlung wäre deshalb, den medizinischen Umgang mit dem Coronavirus normalisieren. Wer Symptome hat oder sich krank fühlt, geht zum Arzt. Dort erfolgt eine Diagnostik und gegebenenfalls wird man krankgeschrieben und nach Hause geschickt. Wenn man dann nicht mehr symptomatisch ist, geht man wieder zur Arbeit.
WELT: Haben Sie mal mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) über Ihre Sicht der Dinge gesprochen?
Fickenscher: Ich weiß, dass der Bundesgesundheitsminister gerne in Talkshows auftritt, dass er darüber hinaus aber nicht besonders aufgeschlossen ist – zum Beispiel gegenüber den Landesgesundheitsministerinnen und -ministern aus Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein.
Die haben ihn unlängst aufgefordert, die Isolationspflicht für Infizierte doch endlich zu überdenken. Das wurde von Herrn Lauterbach pauschal und ohne weitere Begründung zurückgewiesen.
WELT: Was meinen Sie, warum ist er da so verschlossen?
Fickenscher: Das ist vermutlich eine Art Sicherheitsbedürfnis. Eine Denkweise, die sich in einer früheren Phase der Pandemie entwickelt hat. Politik hatte natürlich Angst davor, sich im Nachhinein vorwerfen lassen zu müssen, zu unvorsichtig gewesen zu sein.
Andererseits haben wir inzwischen so viele andere Staaten – auch in Europa, auch unter vergleichbaren Bedingungen –, in denen es diese Einschränkungen nicht gibt, sodass ich Lauterbachs Linie nicht mehr recht folgen kann.
WELT: Hat die Politik in Deutschland mit ihren teilweise sehr drastischen Infektionsschutzmaßnahmen überzogen?
Fickenscher: In der Vergangenheit war das angemessen. Die Maßnahmen haben uns ausreichend Zeit verschafft, um zum Beispiel mithilfe der Impfungen viele schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. Inzwischen hat sich ein sehr großer Teil der Bevölkerung zudem infiziert, sodass der Immun-Status der gesamten Bevölkerung jetzt noch höher ist, als er es allein durch das Impfen gewesen wäre.ORON– DFormularbeginn
Formularende
WELT: Thema Tests – Macht es aus Ihrer Sicht noch Sinn, sich testen zu lassen, bevor man sich zum Beispiel privat für eine Geburtstagsfeier trifft?
Fickenscher: Das kann man im privaten Rahmen gerne weiterhin tun, gerade wenn man Besuch von älteren oder vorgeschädigten Angehörigen oder Freunden bekommt. Die Schnelltests sind ja einigermaßen preiswert.
WELT: Was ist mit den Impfungen? Sollen sich die Leute regelmäßig auch zum fünften oder sechsten Mal impfen lassen?
Fickenscher: Da gilt das, was die Ständige Impfkommission empfohlen hat. Ältere und Menschen mit stark beeinträchtigtem Immunsystem sollten sich weiterhin regelmäßig impfen lassen. Für die Normalbevölkerung ist das nicht nötig, im Zweifel sollte man mit seinem Arzt besprechen, ob eine weitere Impfung Sinn macht.
WELT: Würden Sie sagen, die Pandemie ist überstanden?
Fickenscher: Wir sind auf dem Weg von der Pandemie zur Endemie sehr weit vorangekommen. Schon bei der jüngsten Erkältungswelle war Sars-CoV-2 nicht mehr der dominante Erreger – sondern das Rhino-Virus, ein ganz herkömmliches Schnupfen-Virus also.
WELT: Wie sollten wir in den kommenden Monaten, vielleicht Jahren mit Covid umgehen?
Fickenscher: Mein Vorschlag wäre, dass wir im Falle einer starken Verbreitung von Atemwegserkrankungen oder auch der Grippe das Tragen von Masken, auch das Abstandhalten empfehlen. Alles Weitere sollte in der Verantwortung des Einzelnen bleiben.