Der Beitrag wird wohl länger. Sorry schonmal.
Ich merke bei mir, wie mich der moralische Zeigefinger vieler gerade ärgert.
Ich könnte mir vorstellen, daß es `ner Reihe anderer Leute ganz ähnlich geht und die u. a. deswegen in eine Verweigerungshaltung gehen und für rationale Argumente wenig zugänglich sind.
Ich bring einfach ein paar Beispiele aus meinem Praxisalltag.
Da kommen gerade zwei erfahrene Anästhesie-Fachschwestern um die 40. Beide haben schon vor Jahren ihre Nische in der Prämed-Abteilung gefunden, um aus dem zerstörerischen Stationsalltag rauszukommen. Die konnten es mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren, als Routine 2 Säle gleichzeitig zu bedienen: Erst die Einleitung im einen Saal, dann rüber in den nächsten. Die waren nach x Doppelschichten fertig, weil wieder kein Personal da war. UNd die haben es irgendwann nicht mehr ertragen, von den sich weiterhin aufopfernden Kollegen als A-SOZIAL gebranntmarkt zu werden, wenn sie doch mal Nein sagten. Das System, das Menschen dazu zwingt, sich selbst auszubeuten, nenne ich asozial.
Da kommt gerade der Orthopäde, der es satt hat, sublim genötigt zu werden, doch noch die nächste Prothese, die medizinisch nicht wirklich indiziert ist, zu implantieren. Auch der hat seinen fetten moralischen Konflikt.
Da sitzt die Erzieherin, die (wie die Krankenschwestern) unter permanentem Kollegenmangel viel zu viele Kinder betreut. Und die Verantwortlichen schauen weg.
Hier hat gerade ein Chefarzt mit `ner Menge akademischer Kollegen gekündigt, weil er die Ökonomisierung im Gesundheitswesen satt hat. Zum ersten Mal streikte in diesem Jahr das Klinik-Personal ernsthaft, nicht bloß so`n Warnstreik.
Denen wurde sogar die Corona-Prämie vorenthalten.
Das Klatschen von den Balkonen und die Diskussion über Impfzwang empfinden die nur noch als Hohn. Doppelmoral pur.
Und es sind immer die gewissenhaften und übermoralischen Leute, die an ihrem eigenen Anspruch wie dem äußeren in die Knie gehen.
Was ich sagen will: Dieses System ist zutiefst amoralisch. Und wir alle haben uns irgendwie damit arrangiert. Und es gibt ganz sicher viel viel schlechtere. Ich will nicht weg hier. Aber keiner soll behaupten, das hier sei ein moralisch überlegenes Gesellschaftsmodell.
Wir sitzen alle in unseren Blasen, sind gute Staatsbürger, wenn wir Dinge konsumieren, die wir nicht brauchen, freuen uns über wachsende Aktien-Depots und Vermietungskonten, die durch die Pandemie nur noch fetter werden. Das ist zutiefst amoralisch und asozial.
Ich finde, daß viele Leute gute Gründe haben, sich allem Möglichen zu verweigern - wenn `s auch noch so asozial und scheinbar irrational ist.