Interview in der heutigen NZZ.ch
https://www.nzz.ch/schweiz/cor…wie-in-italien-ld.1545760
ZitatAlles anzeigenInfektionsspezialist: «Wir müssen die Welle von Coronavirus-Infektionen brechen, sonst geraten wir in einen Tsunami»
Der Basler Infektionsspezialist und Spitalhygieniker Andreas Widmer warnt: Nur wenn sich jeder Einzelne an die vom Bund ausgegebenen Weisungen halte, werde das Schweizer Gesundheitssystem nicht zusammenbrechen.
Erich Aschwanden12.03.2020, 08.55 Uhr
Salvatore Di Nolfi / Keystone
Herr Widmer, wie wird sich die Zahl der Infektionen mit dem Coronavirus in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln?
Momentan deuten alle Daten darauf hin, dass wir ein exponentielles Wachstum haben. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass wir in der Schweiz exakt dieselbe Entwicklung erleben werden wie Italien.
Was heisst das in Zahlen?
Es gibt ein Modell der amerikanischen Spitalorganisation, das damit rechnet, dass 30 Prozent der Bevölkerung angesteckt werden. Die meisten dieser Fälle verlaufen mild, aber 10 Prozent brauchen ärztliche Betreuung in irgendwelcher Form. Es wären also rund 300 000 Personen betroffen. Selbst wenn es bloss 100 000 wären, ist das immer noch eine gewaltige Zahl. Diese Erkrankungen kommen ja zu den Fällen von Influenza und Lungenentzündung und anderen Krankheiten, die ja auch behandelt werden müssen.
Kann das Schweizer Gesundheitswesen eine solch massive Zahl von Fällen überhaupt bewältigen?
So leid es mir tut, dies zu sagen: Es kann es nicht, wenn wir nicht drastische Massnahmen treffen. Wir müssen verhindern, dass so viele Patienten auf einmal in Spitalpflege kommen, wie dies in Italien oder China der Fall war. Wir müssen die Welle von Covid-19-Infektionen brechen, sonst geraten wir in einen Tsunami. Viel ist schon gewonnen, wenn die Ansteckungen langsamer und damit für die Spitäler besser verkraftbar werden.
Gelingt dies mit den Massnahmen, die das Bundesamt für Gesundheit beschlossen hat?
Die Leute glauben, der Bund, die Spitäler oder die Kantone könnten das Problem lösen. Tatsächlich entschärfen kann die Situation jedoch nur die Gesellschaft, also jeder Einzelne von uns. Wenn sich die Leute wirklich an die ausgegebenen Weisungen halten, dann ist es möglich, die Ansteckungen zu verlangsamen. Doch wenn man jetzt weiterhin nach Italien fährt, weil man die Gefahr für sich selber als gering erachtet, dann werden wir in eine ähnliche Situation geraten wie Italien. Dort sind die Spitäler ja inzwischen total überlastet und können nicht mehr für alle Patienten immer optimale Behandlungen umsetzen.
Was ist denn die wichtigste Massnahme, die es einzuhalten gilt?
Das ist das Social Distancing. Der Hauptgewinn von Massnahmen wie Absage von Veranstaltungen, Einführen von Home-Office und schärferen Grenzkontrollen ist die Wirkung auf das gesamte Gesundheitssystem. Wenn es gelingt, die Zahl der Infektionen zu verlangsamen, kommen die Patienten dosiert auf die Intensivstationen. Dann könnte es genügend Personal haben, das sich um diese schwereren Fälle kümmern kann.
Vor allem jüngere Leute lassen sich nur ungern in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken.
Im Moment sind die unter 25-Jährigen von der Krankheit praktisch nicht betroffen. Doch sie haben – so die aktuellen Daten – eine unheimlich hohe Keimlast in ihrer Nase und in ihrem Rachen. Deshalb ist eine Übertragung durch solche Personen auch sehr wahrscheinlich. Gefährlich ist dies vor allem für verletzliche Personen, wenn sie in Kontakt mit den Jungen – wenig Kranken – treten. Ich appelliere daher vor allem an die Jungen, sich an die Weisungen des BAG zu halten und Solidarität zu zeigen, die Wochenendpartys für die nächsten Wochen auszusetzen.
Wie gross ist Ihre Hoffnung, dass im Verlauf der kommenden Wochen zunehmend Leute immun werden gegen das Coronavirus?
Diese Chance ist da. Wenn es uns gelingt, dass viele Menschen mit einem geringen Anteil des Virus konfrontiert werden, könnte das wirken wie eine Impfung. Viele dieser Leute werden immun, und dann hat das Virus verloren. Erste Daten weisen darauf hin, dass es zu dieser Immunität kommt. Ausmass und Dauer der Immunität beim Coronavirus ist noch nicht bekannt. Doch die Infektiologen gehen davon aus, dass man mindestens für ein Jahr immun ist.
Gegenwärtig kann das Gesundheitssystem die auftretenden Fälle anscheinend noch bewältigen.
Ja, das ist so. Doch wir müssen es anders machen, als Italien und als China dies getan haben. In China wurde das Virus Anfang Dezember entdeckt, und trotzdem hat man noch mehrere Grossveranstaltungen mit mehreren tausend Teilnehmern durchgeführt. Wenn zu viele Patienten zu gleicher Zeit infiziert werden, dann kommt es zum Stau im Gesundheitssystem. In Italien waren die ersten Fälle bereits Verstorbene, es war viel zu spät, um zu reagieren.
Bei welcher Zahl von Fällen würde das Schweizer Gesundheitssystem zusammenbrechen?
Das weiss niemand. Das ist vielleicht mathematisch interessant. Aber eines ist sicher: Bei einer so grossen Anzahl von Infektionen, wie sie momentan Italien erlebt, ist jedes Gesundheitssystem überfordert.
Welche Rolle spielt es, wie hoch die Zahl der Intensivpflegebetten ist?
Das wird im Fall einer ungebremsten Welle relativ irrelevant. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass weiterhin Leute mit einer Lungenembolie, einem Schlaganfall oder sonstigen schweren Krankheiten behandelt werden. Diese sind ja ebenfalls im System und müssen so gut wie möglich versorgt werden. Wenn sich Menschen wirklich an die jetzt ausgegebenen Verhaltensmassregeln halten, dann liegen hoffentlich maximal fünf bis zehn Coronavirus-Patienten auf den Intensivstationen pro Klinik. Das können Ärzte und Pflegepersonal mit Ach und Krach noch bewältigen.
Müsste der Bund noch mehr und massivere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit erlassen?
In Grenzregionen wie hier in Basel ist die Situation angespannter als anderswo. Wir müssen damit leben, dass die Regelungen in Frankreich, Deutschland und auf kantonaler Ebene sehr unterschiedlich sind. Die Grenze zu schliessen, wäre meiner Ansicht nach die falsche Lösung. Das würde zu viel Kollateralschäden führen, kommen doch viele Mitarbeiter im Gesundheitswesen von Deutschland und Frankreich. Doch man sollte den Verkehr über die Grenze limitieren auf das, was absolut notwendig ist. Dazu gehört das Personal im Gesundheitswesen, aber auch Fahrten für den Transport. Aber den Ausflugsverkehr über die Grenze der Nachbarländer sollte man zumindest einmal bis Ostern aussetzen. Noch letztes Wochenende wurde ich gefragt, ob eine Familie aus Siena mit ihren Kindern auf Besuch nach Basel kommen dürfe: juristisch korrekt, Siena war kein Sperrbezirk, aber äusserst unsolidarisch. Sie kamen trotzdem.
Was passiert, wenn wir durch solche Massnahmen nicht genügend Zeit gewinnen? Kann es sein, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, wo man entscheiden muss, ob gewisse Coronavirus-Patienten überhaupt noch behandelt werden?
Das können nicht wir entscheiden. Es handelt sich um ganz heikle ethische Fragen. Doch es wäre für die Intensivmedizin extrem hilfreich zu wissen, was der Patient will, wenn er in eine solche Extremsituation kommt. Es wäre sicher sinnvoll, wenn sich Leute, die über 70 Jahre alt sind und somit in der Regel am schwersten erkrankten, sich diese Frage stellen würden. Soll ich mir dies noch antun und mich künstlich beatmen lassen und dabei auch schwere Komplikationen in Kauf nehmen? Wenn alle Beatmungsmaschinen mit 80-Jährigen besetzt sind, dann mindert das die Chancen für jüngere Leute, die ebenfalls schwer erkrankt sind. Wenn wir aber als Gesellschaft solidarisch sind und die Senioren nicht anstecken, dann müssen wir uns dieser schwierigen, kaum lösbaren Frage nicht stellen.
Die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems hängt nicht nur von der Technik ab, sondern auch vom Personal.
So ist es. Hier sehe ich auch die grösste Gefahr. Wir müssen die Ärzte noch mehr schützen. Das gilt für die niedergelassenen Ärzte ebenso wie im Spital. Wenn sich ein praktizierender Arzt ansteckt und für 14 Tage in Quarantäne geschickt wird, ist die Praxis geschlossen, und die Patienten kommen in die Notaufnahme des Spitals. Dazu kommt ja, dass viele Ärzte über 50 Jahre alt sind und somit zur Risikogruppe zählen.
Wie sieht es mit dem Schutz des Personals in den Krankenhäusern aus?
Dieser Punkt muss höchste Priorität haben. Wir müssen so gut wie möglich vermeiden, dass sich Mitarbeitende im Gesundheitswesen anstecken. Wenn sich Ärzte und Pflegende auf einer Station anstecken, müssen sie zu Hause bleiben, selbst wenn sie nur geringe Symptome aufweisen. So etwas hätte massive Konsequenzen für den Spitalbetrieb.
[Fortsetzung im nächsten Beitrag]