Heute soll Berichten zufolge das IOK entscheiden, ob Skaten und Surfen olympisch werden soll. Was würden die beiden Sportarten gewinnen? ... was verlieren? Ein schöner Artikel aus der heutigen Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung:
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Neue olympische Sportarten
Feindliche Übernahme
von Christof Gertsch, Rio de Janeiro 3.8.2016, 07:40 Uhr
In Rio de Janeiro entscheidet das IOK darüber, ob rund zwei Jahrzehnte nach dem Snowboarden auch Surfen und Skaten olympisch werden sollen – ist das für die Freestyle-Sportarten das Ende der Freiheit?
Jonathan Giger war zehnjährig, als sein Vater ihm ein Skateboard schenkte, aber bis er nur halbwegs eine Idee von der Welt hatte, die sich ihm dadurch eröffnen sollte, verging noch viel Zeit.
Es war ein Warenhaus-Skateboard, keines dieser 300-Franken-Dinger, die er heute fährt, und jahrelang stand es meistens herum. Giger benutzte es selten, und wenn doch, dann als Transportmittel, «um von A nach B zu kommen», wie er sagt, nicht als Trickgerät. Er trug ihm auch kaum Sorge. Wenn er es draussen hatte liegenlassen und es zu regnen anfing, blieb es halt im Regen.
Dann sah ihn ein Mitarbeiter seines Vaters mit dem Brett, und der Mitarbeiter fragte: «Kannst du den Ollie?» Giger wusste nicht, was der Mann meinte, aber er liess es sich zeigen.
Der Ollie ist ein Basistrick im Skateboarden. Durch einen Impuls jenes Beines, das auf der Tail steht, dem Hinterteil des Brettes, und durch Aufrichten jenes Beines, das auf der Nose steht, dem Vorderteil des Brettes, hebt man das Brett in die Luft, zum Beispiel um ein Hindernis zu überspringen.
Giger war hingerissen, jedenfalls in der Erinnerung. «Ich dachte: Krass!» Auf Youtube, dem damals gerade gegründeten Videoportal, klickte er sich durch Aufnahmen von Skateboardern, und weil er in einem Dorf auf dem Land lebte, in Gams im Rheintal, und es dort kaum Skater hatte oder er noch keine kannte, kaufte er sich ein Trickbuch. Ein Trickbuch!, er lacht. «Das macht man doch nicht.» Heute weiss er das, damals nicht, aber heute weiss er auch: Ein echter Skater akzeptiert jeden Skater als das, was er ist, «ob er enge oder weite Hosen trägt, Hip-Hop oder Metal hört, gesprächig oder schweigsam ist».
Heute ist Jonathan Giger 24-jährig, man kennt ihn als Jonny Giger, und als solcher hat er auf Youtube 84 000 Follower. Die Leute, vornehmlich junge, haben seinen Channel abonniert, weil sie sich von ihm inspirieren lassen und weil sie erfahren wollen, wenn er einen neuen Trick gestanden hat, sie schreiben ihm: «Wegen dir gehe ich heute skaten!»
Die Hälfte dieser 84 000 Follower kommt aus den USA, etwa drei Prozent kommen aus der Schweiz. Die USA sind das Mekka, die Schweiz ist das Entwicklungsland. Nationalitäten sind im Skaten kaum von Belang, aber vielleicht ändert sich das. Denn es könnte sein, dass sich bald Menschen fürs Skaten zu interessieren beginnen, die im Moment nicht einmal wissen, was ein Ollie ist: Funktionäre von Sportverbänden.
Giger hat keine Ahnung von Sportverbänden, obschon es auch im Skateboarden welche gibt, die WSF, die ISF, die Firs, und nie im Leben käme ihm in den Sinn, fürs Skaten in den Kraftraum oder joggen zu gehen. Zum Ausgleich macht er Yoga, und Fitness trainiert er schon beim Skaten genug. Es gibt in dieser Welt keine Trainer, keine Trainingspläne, keine Physiotherapeuten, und vor allem gibt es niemanden, der anderen etwas vorsagt. Nur: Wie lange noch?
Stürmisch und ekstatisch
An der 128. Session in Rio de Janeiro entscheidet das Internationale Olympische Komitee (IOK) diesen Mittwoch über die Sportarten, die für die Spiele 2020 neu ins Programm aufgenommen werden. Neben Baseball und Softball, die um Wiederaufnahme buhlen, befinden sich auch Sportklettern und Karate auf der Liste. Und Surfen und Skaten.
Surfen und Skaten! Wahrscheinlich gibt es keine Sportart, die man weniger mit dem etwas drögen und engstirnigen Image von Olympischen Spielen in Verbindung brächte. Und wahrscheinlich gibt es keine Sportart, deren Sportlerinnen und Sportler zerstrittener sind in der Frage, ob sie zu Olympia gehören wollen oder nicht. Was schon allein daran liegt, dass Surfen und Skaten nicht Sport-, sondern eigentlich Lebensarten sind. Sie sind die Antithese zu allem, wofür Olympische Spiele stehen, sie sind nicht Kampf und Regelwerk, sondern Kunst und Reinheit. Sie sind: Auflehnung.
Vielleicht ist das Rebellische nicht mehr ihr wichtigster Trieb oder sicher nicht der, der einem zuallererst einfällt. Aber im Rebellischen wurzeln ihre Anfänge, und mehr als andere Sportarten sind Surfen und Skaten Ausdrucksformen von Freiheit und Unabhängigkeit geblieben. Surfer und Skater sind nicht bessere Menschen als andere Sportler, aber im Unterschied zu anderen Sportlern ist es bei ihnen nur selten der Wettkampf, der das Schlechte in ihnen hervorbringt. Wettkämpfe gibt es kaum und wenn doch, sind es aufs Ganze gesehen Randerscheinungen.
Wenn wir sehen, wie ein Skater durch Barcelona tanzt und wie eine Surferin frühmorgens in Biarritz einem Delphin gleich mit dem Wasser spielt, ein Sport so «harmlos und stürmisch», «unwägbar und todbringend», «ekstatisch und befriedigend», wie es im Mammutwerk «Surfing» von Jim Heimann heisst – ist es dann nicht so, dass wir alle gerne etwas von einem Skater oder einer Surferin hätten? Ein Brett in die Hand nehmen und sich in die Stadt oder in die Welle stürzen, sich die Stadt zu eigen oder sich die Welle gemein machen: Ist das nicht etwas vom Schönsten, was man sich unter Bewegung vorstellen kann?
Schon klar, dass sich das IOK auch endlich mit dieser glücklichen Ideologie vereinen will. Schon klar, was es bekäme, wenn es sich einverleiben würde, was einst als Widerstand entstanden ist: 84 000 Follower von Giger und Millionen Follower von anderen Skatern und Surfern, Giger ist ja längst nicht der Bekannteste der Szene. Es sind Follower, von denen viele noch nie den Fernseher eingeschaltet haben, um Olympische Spiele zu schauen, und wenn, haben sie genau einmal eingeschaltet, nämlich als im 100-Meter-Final dieser wilde Jamaicaner allen um die Ohren rannte.
Aber was bekämen die Surfer und Skater, wenn sie olympisch würden? Und vor allem: Was verlören sie? Es ist kein schwarzes Loch, in das sich Surfen und Skaten begäben. Bereits Ende der neunziger Jahre ist Snowboarden diesen Weg gegangen, die jüngste der drei Brett-Sportarten, entstanden in den sechziger Jahren an der amerikanischen Ostküste aus dem Wunsch heraus, die Freiheit des Surfens im Meer und des Skatens in der Stadt in die Berge zu tragen, in den Schnee. Vieles, was auf Surfen und Skaten zukäme, wenn sie olympisch würden, lässt sich dank den Erfahrungen im Snowboarden erahnen.
Snowboarden ist kleiner als Surfen und Skaten, aber die Welten sind ähnlich strukturiert – oder eben: unstrukturiert. Auch im Snowboarden gab es Skepsis gegenüber Olympia, sogar Abneigung, und weder die Skepsis noch die Abneigung sind gänzlich verschwunden. Die Snowboarder haben die Olympischen Spiele in einer Art belebt, wie es viele bis heute gar nicht zu schätzen wissen, sie haben nicht nur Spektakel gebracht, sondern auch ein neues Verständnis von Sport, ihr Verständnis: weniger verkopft, weniger angestrengt. Alles, was Snowboarder tun, wirkt leicht, und das tut es auch an den Spielen, nur halt in einem Korsett. Snowboarden an Olympia findet in Halfpipes und auf Slopestyle-Parcours statt, in diesen aufwendig in den Berg gehauenen Nachahmungen, und ähnlich erginge es den Surfern und Skatern. Die Skater, für die jede Stadt ein Ort unbegrenzter Möglichkeiten ist und die an den asiatischen Städten den Marmor mögen und in Prag die Sitzbänke und Treppen – sie würden an den Olympischen Spielen in einen künstlichen Spielplatz gezwängt, um sie herum Zuschauertribünen, wie Kinder auf einem Schulhof mit Zäunen. Und je nachdem, wo die Spiele stattfänden, müssten die Surfer ihren Wettkampf in einem Becken mit maschinell erzeugten Wellen abhalten, eine Installation, die sich gerade durchsetzt – jene Surfer, die sonst manchmal stundenlang über Klippen klettern und durch Wasser waten, nur um Wellen zu finden, die es gut meinen mit ihnen.
Im Surfen, Skaten und Snowboarden ist der Weg das Ziel. Die Perfektion entsteht nie nur von innen heraus, sondern im Zusammenspiel mit der Natur, es ist eine Abhängigkeit, die demütig macht. Ein Snowboarder am Berg würde sich nie über Bäume beschweren, die ihn bremsen, oder über die Sonne, die ihn blendet. Aber ein Snowboarder in der Halfpipe beschwert sich über matschigen Schnee, wie sich ein Fussballer über Löcher im Rasen oder ein Schwimmer über zu kaltes Wasser beschwert.
Wenn du wie Giger ein Skater bist, der seine Tricks selten in Wettkämpfen, aber umso öfter in Filmen zeigt, bist du manchmal einen Sommer lang unterwegs, und am Ende hast du ein Drei-Minuten-Video beisammen. Du übst einen Trick dreihundert Mal, bis du ihn stehst, und im Video dauert er drei Sekunden. Und jeden Tag ergründest du deine Umgebung, hier ein Geländer, das Spass machen, dort eine Rampe, die Spannung bringen könnte. Du siehst die Welt durch die Augen des Skaters, siehst Freude, wo andere nur Nutzen sehen.
Oder du bist eine Surferin wie Alena Ehrenbold und lebst wie eine Nomadin. Ehrenbold, eine Schweizerin, 32-jährig, hat durch ihren früheren Freund zum Surfen gefunden. Sie hatten sich kennengelernt, als sie nach dem Gymnasium als Flight Attendant gearbeitet hatte, und als sie sich nähergekommen waren, hatte er gesagt: «Eines musst du wissen: Ich bin Surfer.» – Sie: «Schön!» – Er: «Nein, du verstehst nicht. Ich surfe in jeder freien Minute. Am Freitagabend fahre ich nach Frankreich, nach Italien, je nachdem, wo das Wetter gut ist, und am Sonntagabend kehre ich zurück.» – Sie: «Ja, das ist doch in Ordnung.» – Er: «Du hast zwei Möglichkeiten, wenn du mitkommen willst. Entweder du surfst, oder du fotografierst.» Ehrenbold hatte es nicht so mit dem Fotografieren.
Zwischen Arbeit und Ausbruch
Heute könnte man sagen, Ehrenbold sei die beste Surferin des Landes, aber das wäre eine komische oder zumindest unvollständige Beschreibung. Denn so, wie Ehrenbold das Surfen versteht, geht es nicht darum, die Beste zu sein. Sie lebt vom Surfen, und sie lebt fürs Surfen, aber an Wettkämpfen nimmt sie nur teil, wenn es sich gerade ergibt. Vor einem Jahr hat sie ihren Job als Gymnasiallehrerin gekündet, jetzt gibt sie manchmal Stellvertretungen, aber meistens ist sie unterwegs, ein Leben aus dem Koffer, und niemand organisiert ihr irgendwas, kein Verbandssekretär, und niemand schreibt ihr etwas vor, kein Leistungssportchef, kein Nationaltrainer.
Selten ist sie länger als zwei Wochen am selben Ort, immerfort jagt sie den Wellen hinterher – oder einem Job: Sie leitet Kurse, verfasst Magazintexte, posiert für Shootings, produziert Filme. Vor zwei Jahren ist von ihr «I Wanna Surf» erschienen, ein Film über das Surfen in der Schweiz, also vor allem: über Schweizerinnen und Schweizer, die mit gepackten Rucksäcken am Flughafen stehen, ewig Reisende, oder die, wenn sie mal nicht wegkönnen, in den Wellen von Motorbooten surfen oder in stehenden Flusswellen. Der Film erzählt die Geschichte von Einwohnerinnen und Einwohnern eines Binnenlandes, die vor allem eines sind, wie es in der Beschreibung heisst: Lebenskünstler zwischen Arbeitsalltag und Ausbruch.
Ehrenbold hat sich für den Ausbruch entschieden, und die Aussicht, dass Surfen olympisch werden könnte, macht sie zufrieden. Sie glaubt, das würde ihrem Sport endlich den Respekt verschaffen, den er verdient, «die Leute meinen ja immer noch, wir seien irgendwelche Dudes, die nur am Strand hängen». Dass das nicht stimmt, kann sie gleich selbst widerlegen, ein normaler Tag von ihr am Meer sieht etwa so aus: Tagwache ist zwischen 4 und 6 Uhr, weil der Wind am Morgen meistens ablandig und die Wellen dadurch am besten sind. Dann: Surfen, Mittagessen, Nickerchen, Dehnen, Surfen, Abendessen. Und um 21 Uhr fällt sie «mega erschöpft» ins Bett.
Aber wäre es so schlimm, wenn die Wahrheit über das Surferleben ein Geheimnis bliebe? Ist es nicht genau dieses Geheimnisvolle, das das Surfen so wundervoll macht? Es gibt eine Theorie, wonach eine Urform des Surfens bereits um 3000 v. Chr. entstanden ist, nahe der peruanischen Stadt Trujillo, als Händler, die ihre Waren auf Brettern der Küste entlang transportierten, ihr Arbeitsgerät als Selbstzweck entdeckten. Eine Sportart mit einer derart langen Geschichte – braucht die wirklich ein anderes Image?
Die Sache mit den Olympischen Spielen ist die: Sie vermögen eine Freestyle-Sportart tatsächlich einem grösseren Publikum verständlich zu machen, das hat man im Snowboarden eindrücklich gesehen. Aber sie zeigen dem Publikum eben nur die eine Seite des Freestyle-Sports, eigentlich die unwichtigere. Das muss nicht weiter ein Problem sein, denn die Sportler, die sich lieber auf der anderen Seite aufhalten, die Freigeister, die der Gegenkultur frönen, dem Anti-Establishment, dieser Mischung aus Rock und Sport – diese Leute werden ja nicht von den Olympischen Spielen aufgehalten, und nach Anerkennung von denen, die ihren Sport nicht verstehen, streben sie schon gar nicht. Aber es kann ein Problem sein, etwa wenn das Publikum mit dem Snowboarden nicht mehr die Endlosigkeit der Berge verbindet, sondern die Unmittelbarkeit des Wettkampfs oder wenn ein eleganter One-Eighty in der unberührten Natur keinen Wert mehr hat, weil das Publikum nur noch nach halsbrecherischen Dreifachsalti mit Dreifachschrauben lechzt.
Die Olympische Spiele sind der Kapitalismus, und die Freestyle-Sportarten sind der Sozialismus, aber in diesem Fall erdrückt der Kapitalismus den Sozialismus nicht, denn die Idee des Sozialismus ist stärker. Snowboarden ist durch die Olympischen Spiele nicht falscher geworden, höchstens vielseitiger.
Der Wermutstropfen dieser Entwicklung ist, dass es den Snowboardern nicht gelungen ist, den Weg selbst zu bestimmen. Wenige Jahre nach der Olympiapremiere erlag ihr Verband den Streitigkeiten, die die Spiele ausgelöst hatten, und bis heute haben die Snowboarder Mühe, eine Organisation zu etablieren, die nicht wie Olympia von oben, sondern wie jede Freestyle-Sportart von unten her gesteuert ist. Die Gefahr droht auch den Surfern und Skatern. Im Surfen buhlen bereits jetzt drei Verbände um die olympische Anerkennung, konkret um das Recht, das Qualifikationsprozedere zu bestimmen. Und wenn stimmt, was Ehrenbold sagt, steht dieser Kampf auch der uneinigen Surfer-Szene bevor.
Schere, Stein, Papier
Es gab das Gerücht, das IOK wolle eine Action Sports Federation gründen, eine Vereinigung aller Freestyle-Sportarten, und vielleicht wäre das besser als zum Beispiel die Hoheit über das Snowboarden der FIS zu überlassen, dem Skiverband. Bei der FIS hat man bis heute das Gefühl, ihre wichtigsten Entscheidungsträger verstünden das Snowboarden nicht, auf das IOK trifft der Eindruck erst recht zu. Die 15 Mitglieder der IOK-Exekutive haben Erfahrungen in den unterschiedlichsten Sportarten, Tennis, Fussball, Fechten, Squash, Schwimmen, Leichtathletik, Basketball, Badminton, Golf, Baseball, und ein Mitglied nennt auf der Homepage sogar Privatflugzeugfliegen und Fischen als seine sportlichen Hobbys. Aber niemand zählt Snowboarden, Surfen oder Skaten auf.
Und ziemlich sicher ist noch nie jemand aus der Exekutive in einer Fabrikhalle in Los Angeles gewesen, als dort die Battle at The Berrics stattfand, einer der wichtigsten Wettkämpfe im Skaten. Wobei Wettkampf eben falsch ist, richtig ist: Spiel. Es nimmt teil, wer eingeladen wird, und vor zwei Jahren hatte Jonny Giger die Ehre, der Schweizer mit den 84 000 Followern. Er trat als Nicht-Profi gegen einen Profi an, das war der Modus dieses Games. Die Regeln sind leicht: Der eine Skater führt einen Trick vor, der andere macht ihn nach, bei fünf Fehlern ist fertig. Der Skater, der anfangen darf, hat einen riesigen Vorteil.
Und wie wird entschieden, wer anfangen darf? Mit Schere, Stein, Papier.